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Die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland ist seit einem Höchststand von 21.332 im Jahr 1970 im Vergleich zu heute signifikant zurückgegangen. 2019 waren es noch 3046, in 2020 sind es voraussichtlich erstmals weniger als 3000. Diese Zahl ist ein politischer und gesellschaftlicher Erfolg. Zurückzuführen ist diese Reduzierung der Verkehrstoten auf unterschiedliche Faktoren. Dazu gehört, dass Fahrzeuge durch technische Innovationen für deren (Mit-)fahrer:innen sicherer geworden sind[1]Eine Verbesserung der Fahrzeuge führt nicht zwangsläufig zu weniger Verkehrstoten: „Daher ist es (…) nicht zielführend technische Maßnahmen einzusetzen, um das objektive Risiko zu verringern, … Continue reading, die Höchstgeschwindigkeit auf Landstraßen auf 100 km/h begrenzt wurde[2]Auf Landstraßen sterben weiterhin die meisten Verkehrsteilnehmer:innen. … Continue reading, oder die Pflicht zum Anlegen eines Sicherheitsgurtes besteht. Der vielleicht unbekannteste und heute als selbstverständlich wahrgenommene Faktor könnte die Einrichtung eines flächendeckenden Rettungsdienstes sein.[3]1969 kam der achtjährige Björn Steiger ums Leben, als er von einem Autofahrer angefahren wurde. Es dauerte eine Stunde, bis ein Rettungsdienst vor Ort war. Er starb auf der Fahrt ins Krankenhaus an … Continue reading Dennoch verbleiben nach wie vor etwa 3000 Familien jedes Jahr, in deren Mitte plötzlich und unwiederbringlich eine Leerstelle entsteht.

Eigene Darstellung in Anlehnung an Statistisches Bundesamt (Destatis), 2020

Auch wenn die absolute Anzahl der Verkehrstoten zurückgeht[4]Die Zahl der getöteten Kinder stagniert. https://www.bast.de/BASt_2017/DE/Presse/Downloads/2020-17-Unfallprognose.pdf?__blob=publicationFile&v=2 [11.02.2021], steigt die der getöteten Radfahrer:innen[5]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1041872/umfrage/getoetete-fahrradfahrer-im-strassenverkehr-in-deutschland/ [11.02.2021] seit einigen Jahren. Akzeptiert werden sollte aber keine andere Größe als null Verkehrstote. Insbesondere müssen Fußgänger:innen und Radfahrer:innen geschützt werden. So steht es auch in § 10 Absatz 3 des Berliner Mobilitätsgesetzes:

„Ziel ist, dass sich im Berliner Stadtgebiet keine Verkehrsunfälle mit schweren Personenschäden ereignen. Diese „Vision Zero“ ist Leitlinie für alle Planungen, Standards und Maßnahmen mit Einfluss auf die Entwicklung der Verkehrssicherheit.“[6]https://gesetze.berlin.de/jportal/?quelle=jlink&query=MobG+BE+%C2%A7+10&psml=bsbeprod.psml&max=true [11.02.2021].

Es gäbe viele Möglichkeiten, weitere Menschenleben zu retten und die Zahl Richtung Null zu bewegen. Finnland hat es vorgemacht: 2019 wurden in Helsinki keine Fußgänger:innen oder Radfahrer:innen getötet.[7]2019 sind in Helsinki ein Autofahrer und zwei Motorradfahrer im Straßenverkehr gestorben. … Continue reading Dass dort in den meisten Wohngebieten und im Stadtzentrum nur eine Geschwindigkeit von 30 km/h erlaubt ist, wird zu einem der wichtigsten Gründe gezählt. Nicht zuletzt deshalb wird auch in Deutschland über die Einrichtung einer innerorts flächendeckenden Geschwindigkeitsbegrenzung von 30km/h diskutiert.

Erst im Januar 2021 wurde der Antrag der Linksfraktion auf der Bezirksverordnetenversammlung Pankow in Berlin angenommen, im gesamten Bezirk – mit wenigen Ausnahmen – Tempo 30 einzurichten.[8]https://www.berlin.de/ba-pankow/politik-und-verwaltung/bezirksverordnetenversammlung/online/vo020.asp?VOLFDNR=5640 [11.02.2021] Fehlt die rechtliche Grundlage, gestaltet sich die Umsetzung aber trotz politischem Willen zur Veränderung schwierig. Denn die Einrichtung von Tempo 30 auf Hauptstraßen ist Bundesrecht. Hierfür muss die Straßenverkehrsordnung (StVO) geändert werden, die weiterhin den Autoverkehr und nicht den Menschen im Fokus hat.

Schon als Ende der 1950er Jahre eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften eingeführt werden sollte, gab es ähnliche Diskussionen.[9]https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/verkehrsplanung/tempolimit#tempolimit-innerorts [11.02.2021] Es wurde unter anderem vor einer Belastung des Verkehrsflusses gewarnt.[10]https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43064362.html [11.02.2021] Auch heute noch argumentieren Kritiker:innen, eine Herabsetzung der Geschwindigkeit auf 30 km/h würde zu einer Verminderung des Verkehrsflusses führen und somit zur Einschränkung der grünen Welle beitragen.[11]https://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/erhoehte-sicherheit-oder-gesetzwidrig-in-berlins-groesstem-bezirk-soll-bald-auf-allen-strassen-tempo-30-gelten/26835948.html … Continue reading Aber gerade die Unübersichtlichkeit und das ständige Wechseln der Geschwindigkeitsvorgaben scheint eher zu stockendem Verkehr zu führen.[12]Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf die Debatte nach der letzten Novelle der Straßenverkehrsordnung. Kritiker:innen monierten, dass es bei einer Herabsetzung der kritischen Grenze auf 21 km/h … Continue reading Es macht den Verkehr zumindest gefährlicher.

Unbestritten ist, dass die Überlebenschance für ungeschützte Verkehrsteilnehmer:innen wesentlich höher ist, wenn der/die Autofahrer:in bei einer Kollision 30km/h fährt, anstatt 50 km/h. Während die Person, die mit 30 km/h unterwegs ist, bereits komplett zum Stehen gekommen ist, hat diejenige, die 50 km/h fährt, noch nicht einmal begonnen zu bremsen. Nun lässt sich der Unfallstatistik entnehmen, dass eine nicht angepasste Geschwindigkeit zu den häufigsten Unfallursachen gehört.[13]https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/_Grafik/_Interaktiv/verkehrsunfaelle-fehlverhalten.html [11.02.2021] Die Tendenz, immer etwas schneller zu fahren als angemessen – weil es geduldet, nicht erheblich sanktioniert und durch schnelleres Ankommen womöglich belohnt wird – kann im Zweifel über Leben und Tod entscheiden.[14]Gehlert, Tina; Kröling, Sophie (2018): Verkehrssicherheit. In: Oliver Schwedes (Hg.): Verkehrspolitik. Eine interdisziplinäre Einführung. 2. Aufl. 2018. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, … Continue reading

„Es sind gerade diese routinemäßigen Verstöße gegen die geltenden Regeln, wie z.B. Geschwindigkeitsbegrenzungen, Mindestabstände oder auch das Alkoholverbot, die mit einem erhöhten oder besonders schweren Unfallgeschehen in Verbindung gebracht werden.[15]Ebd.

Eigene Darstellung in Anlehnung an LK Argus

Längst ist nicht überall dort, wo es nach geltender StVO möglich wäre, Tempo 30 eingerichtet. Und dort, wo es eingerichtet ist, halten sich längst nicht alle motorisierten Verkehrsteilnehmer:innen an die Geschwindigkeitsvorgaben.[16]Mit 82 statt der erlaubten 30 km/h unterwegs: https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.1040823.php [11.02.2021] Dies ist nicht nur eine Frage von Kontrolle und Sanktionen.[17]Gehlert, Tina; Kröling, Sophie (2018): Verkehrssicherheit. In: Oliver Schwedes (Hg.): Verkehrspolitik. Eine interdisziplinäre Einführung. 2. Aufl. 2018. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, … Continue reading Es bleibt die Frage, wie wir unsere Welt gestalten wollen. Für wen soll sie lebenswert sein?

Am Ende läuft vieles wieder auf den Grundsatz der Vision Zero hinaus. Infrastruktur muss fehlerverzeihend und tolerant gestaltet sein, auch für jene, die sie aus physiologischen Gründen noch nicht oder nicht mehr erfassen können, zum Beispiel Kinder oder Senior:innen.[18]https://deutsche-verkehrswacht.de/wp-content/uploads/2020/08/2018_DVW_Brosch%C3%BCre_Kinder-zu-Fu%C3%9F-im-Stra%C3%9Fenverkehr.pdf [23.02.2021] Falsch ist es, tolerant gegenüber Fehlern der stärkeren Verkehrsteilnehmer:innen zu sein. Dieses herrschende Paradigma in der Stadt- und Verkehrsplanung sollte neu gedacht werden.[19]Vgl. Schwedes, Oliver; Wachholz, Sina; Friel, David (2021): Sicherheit ist Ansichtssache. Subjektives Sicherheitsempfinden: Ein vernachlässigtes Forschungsfeld. Discussion Paper. Hg. v. Fachgebiet … Continue reading Eine niedrigere gefahrene Maximalgeschwindigkeit kann hier einen sinnvollen, leicht umzusetzenden Beitrag leisten. Städte, egal welcher Größe, sind Lebensraum für alle Menschen und sollten auch so betrachtet und gedacht werden.

Fußnoten

Fußnoten
1 Eine Verbesserung der Fahrzeuge führt nicht zwangsläufig zu weniger Verkehrstoten: „Daher ist es (…) nicht zielführend technische Maßnahmen einzusetzen, um das objektive Risiko zu verringern, da diese Reduktion gegebenenfalls durch das eigene Verhalten kompensiert wird.“ In: Gehlert, Tina; Kröling, Sophie (2018): Verkehrssicherheit. In: Oliver Schwedes (Hg.): Verkehrspolitik. Eine interdisziplinäre Einführung. 2. Aufl. 2018. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 271–292.
2 Auf Landstraßen sterben weiterhin die meisten Verkehrsteilnehmer:innen. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/_Grafik/_Statisch/verkehrsunfaelle-getoetete-beteiligungsart.png?__blob=poster [11.02.2021]
3 1969 kam der achtjährige Björn Steiger ums Leben, als er von einem Autofahrer angefahren wurde. Es dauerte eine Stunde, bis ein Rettungsdienst vor Ort war. Er starb auf der Fahrt ins Krankenhaus an einem Schock. Die Eltern initiierten nur zwei Monate später die Björn Steiger Stiftung und engagieren sich seither für eine flächendeckende Erstversorgung. Die bundeseinheitlichen Notrufnummern 110 und 112, das Berufsbild des Rettungsassistenten, ein rund um die Uhr erreichbarer Notarzt und weitere heute als selbstverständlich angesehene Notfallhilfe gehen auf dieses Engagement zurück
https://www.steiger-stiftung.de/ueber-die-stiftung/historie [11.02.2021]
4 Die Zahl der getöteten Kinder stagniert. https://www.bast.de/BASt_2017/DE/Presse/Downloads/2020-17-Unfallprognose.pdf?__blob=publicationFile&v=2 [11.02.2021]
5 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1041872/umfrage/getoetete-fahrradfahrer-im-strassenverkehr-in-deutschland/ [11.02.2021]
6 https://gesetze.berlin.de/jportal/?quelle=jlink&query=MobG+BE+%C2%A7+10&psml=bsbeprod.psml&max=true [11.02.2021].
7 2019 sind in Helsinki ein Autofahrer und zwei Motorradfahrer im Straßenverkehr gestorben. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/berlin-kann-sich-beispiel-an-finnland-nehmen-keine-toten-fussgaenger-und-radfahrer-2019-in-helsinki/25558478.html [11.02.2021]
8 https://www.berlin.de/ba-pankow/politik-und-verwaltung/bezirksverordnetenversammlung/online/vo020.asp?VOLFDNR=5640 [11.02.2021]
9 https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/verkehrsplanung/tempolimit#tempolimit-innerorts [11.02.2021]
10 https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43064362.html [11.02.2021]
11 https://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/erhoehte-sicherheit-oder-gesetzwidrig-in-berlins-groesstem-bezirk-soll-bald-auf-allen-strassen-tempo-30-gelten/26835948.html [11.02.2021]
https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/2546/publikationen/wirkungen_von_tempo_30_an_hauptstrassen.pdf, S.10-11 [11.02.2021]
12 Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf die Debatte nach der letzten Novelle der Straßenverkehrsordnung. Kritiker:innen monierten, dass es bei einer Herabsetzung der kritischen Grenze auf 21 km/h über der vorgegebenen Richtgeschwindigkeit innerorts, bei der es zu Sanktionen kommen soll, aufgrund der unübersichtlichen und ständig wechselnden Geschwindigkeitsvorgaben, viel zu häufig genau dazu kommen würde. Die Konsequenz darf gerade nicht sein, die Toleranzhöhe der gefahrenen Stundenkilometer heraufzusetzen. Sondern die Konsequenz sollte sein, eine übersichtliche Lösung zu finden und ein Übertreten der vorgeschriebenen Richtgeschwindigkeit erfassbarer zu machen. Damit wäre auch eine vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung leichter sanktionierbar, da sich ein:e Autofahrer:in nicht mehr darauf berufen könnte, ein Schild nicht gesehen zu haben. Ganz abgesehen vom Gewinn von Ästhetik und Abbau von Bürokratie, wenn eine Kommune sich bei einer einheitlichen Regelung von 30 km/h Unmengen von Verkehrsschildern sparen könnte.
13 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/_Grafik/_Interaktiv/verkehrsunfaelle-fehlverhalten.html [11.02.2021]
14, 17 Gehlert, Tina; Kröling, Sophie (2018): Verkehrssicherheit. In: Oliver Schwedes (Hg.): Verkehrspolitik. Eine interdisziplinäre Einführung. 2. Aufl. 2018. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 271–292.
15 Ebd.
16 Mit 82 statt der erlaubten 30 km/h unterwegs: https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.1040823.php [11.02.2021]
18 https://deutsche-verkehrswacht.de/wp-content/uploads/2020/08/2018_DVW_Brosch%C3%BCre_Kinder-zu-Fu%C3%9F-im-Stra%C3%9Fenverkehr.pdf [23.02.2021]
19 Vgl. Schwedes, Oliver; Wachholz, Sina; Friel, David (2021): Sicherheit ist Ansichtssache. Subjektives Sicherheitsempfinden: Ein vernachlässigtes Forschungsfeld. Discussion Paper. Hg. v. Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung. Technische Universität Berlin. Berlin. Online verfügbar unter https://www.ivp.tu-berlin.de/fileadmin/fg93/Dokumente/Discussion_Paper/DP17_Schwedes_et_al.pdf [26.01.2021]
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