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Realexperimente sind in Stadtplanungspolitik und Mobilitätsforschung in Mode gekommen. Doch welchen Beitrag können sie zur nachhaltigen und sozial gerechten Verkehrswende liefern? Eine neue Studie zeigt, woran es bei der Arbeit mit den Reallaboren hapert.

Realexperimente im Verkehr sind zeitlich begrenzte Praxisversuche unter Beteiligung von Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Das „reale“ Erforschen und Erleben von Veränderungen ist mit großen Erwartungen verbunden. Gelungene Realexperimente können weitergehende Transformationsprozesse anstoßen.

Genau dazu sollen sie Wissen generieren und finden – angesichts der für den Klimaschutz dringend benötigten Fortschritte im Verkehr – in der Verkehrs- und Stadtplanung erhebliche Aufmerksamkeit.

In Studien konnte weltweit gezeigt werden, dass Realexperimente in städtischen Umgebungen trotz unvermeidbarer Konflikte oft zu positiven lokalen Effekten geführt haben. Dazu zählen eine ansteigende Nachbarschaftsaktivität, erhöhte Verkehrssicherheit, nachweislich sauberere Luft, Reduzierung des Autoverkehrs sowie die Möglichkeit zur Entsiegelung, Begrünung und schließlich der Schaffung von mehr Platz für die Menschen in ihren Stadtvierteln.

Ein Experiment hat den Vorteil, dass politische Maßnahmen im ständigen Prüfprozess mit Hilfe von Wissenschaft und Zivilbevölkerung angepasst und verbessert werden können.

Während also die lokalen Vorteile „im Kleinen“ und ein Mehrwert für Nachbarschaften und Kieze auf der Hand liegen, blieb der Beitrag zum „großen Ganzen“, zu einer nachhaltigen und sozial gerechten Mobilitätwende, bisher unklar.

Dieses Transformationspotenzial hat nun die Sozialwissenschaftlerin Katherine Van Hoose von der Universität Amsterdam mit einem Forschungsteam anhand von sechs Realexperimenten in Deutschland und den Niederlanden in einer Studie untersucht.

Nettes Projekt auf Zeit oder Teil einer Veränderungsstrategie?

Realexperimente im Spannungsfeld ihrer Charakteristika | Grafik: Eigene Darstellung auf Basis von van Hoose et al. 2022

Die Studie zeigt zunächst: Die Effekte von Realexperimenten sind so vielfältig wie die Projekte selbst. Wichtig ist, in welchem Spannungsfeld sich Realexperimente bewegen. Je radikaler, kommunikativer, mobilisierender die Experimente insgesamt angelegt waren, desto größer ist ihr möglicher Beitrag zur Mobilitätstransformation.

Wirkung zeigte zum Beispiel das Projekt „Umparken Schwabing“ in München. Dort tauschten Anwohner:innen ihr eigenes Auto für einen Monat gegen ein Mobilitätsbudget. Das Entfernen von Fahrzeugen zugunsten erhöhter Aufenthaltsqualität wurde als sehr positiv bewertet und stieß auf allgemeine Akzeptanz.

Dieser Effekt war auch in der ersten Amsterdamer „Living Street“, der Hugo de Grootkade, zu beobachten. Dabei wurde eine Straße im westlichen Amsterdam für vier Wochen für den motorisierten Verkehr geschlossen. Hier bestätigten sich auch die genannten positiven Wirkungen einer erhöhten Nachbarschaftsaktivität.

Bei beiden Experimenten fehlte aber den Forscher:innen zufolge eine sinnvolle Einbindung in bestehende und langfristige Mobilitätsstrategien. Auch wurden in einigen Projekten Auswertungen und gewonnene Erkenntnisse nicht gründlich analysiert und in übergreifenden Mobilitätskonzepten berücksichtigt. Dies ist für Realexperimente jedoch entscheidend, wenn sie zu einem realen Wandel beitragen sollen.

Das Projekt der „Piazza Zenetti“ in der Münchner Isarvorstadt hat es vorgemacht: Hier sollten ungenutzte Parkflächen wieder nutzbar und als Standorte für geteilte Mobilität getestet werden. Das Projekt war von Beginn an in größere Mobilitätsstrategien wie die „Münchner Sommerstraßen“ eingebunden. Nicht zuletzt war die Stadt München als Initiatorin von Beginn an an der Auswertung der Ergebnisse und den „Lessons Learned“ interessiert.

Wenn das Realexperiment schon bei der Genehmigung stolpert

Realexperimente bringen trotz einiger Widrigkeiten und Konflikte Vorteile für die lokale Nachbarschaft. Wer einmal tatsächlich erlebt hat, wie öffentliche Räume anders genutzt werden können als dort nur überdimensionierte Blechkisten abzustellen, möchte diese Erfahrung meist nicht mehr missen.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Je radikaler das Realexperiment, desto schwieriger ist seine Popularisierung. Denn die herrschenden Rahmenbedingungen stehen dem ja entgegen. Wäre das nicht so, bräuchte es auch keine Realexperimente.

Daher stellt sich die Frage, was kommende Projekte wie im Berliner Graefekiez, wo Parkplätze in einem moderierten Beteiligungsprozess an die Nachbarschaft zurückgegeben werden sollen, von den bisherigen Realexperimenten lernen können.

Die Studie zeigt nämlich auch, dass die Rahmenbedingungen für viele Experimente zu ungünstig waren, um ihr tatsächliches Transformationspotenzial zu entfalten. Beispielsweise wurde das Einholen von Genehmigungen für anderweitige Nutzungsmöglichkeiten der Straße neben dem privaten Pkw als zeitaufwendigste und herausforderndste Aufgabe bewertet.

Für die Planung und Durchführung künftiger Realexperimente kommt  es also darauf an, sich an die jeweiligen lokalen Kontexte und städtischen Gegebenheiten anzupassen und weiterhin an der Novellierung der rechtlichen Grundlagen zu arbeiten. Denn klar ist nur eines: Die Zeit drängt, um zur Mobilitätswende zu kommen.

Dieser Artikel ist ebenfalls im Klimareporter erschienen.

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