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Am 06. Oktober 2022 fand die Fachtagung „Verkehrswende: Urbanen Raum neu denken“ der EXPERI-Forschungsgruppe statt. Im Place of Participation am Kurfürstendamm – eine urbanen Zwischennutzung - fanden sich neben den Forscher*innen des EXPERI-Teams knapp 100 Gäste zusammen. Teilnehmende kamen u.a. aus Wissenschaft, Privatwirtschaft, Verwaltung, zivilgesellschaftlichen Initiativen und Verbänden. Die bisherigen Forschungsergebnisse des Projekts wurden präsentiert und gemeinsam diskutiert. Insbesondere sorgte die Vielfalt an Beiträgen und Methoden für eine angeregte Atmosphäre. So wurden statistische Auswertungen, qualitative Interviews, geographische Analysen und Modellierungen genutzt, um sich dem Thema der Verkehrswende und Flächenumverteilung anzunähern. Zusätzlich zu den wissenschaftlichen Vorträgen gab es auch eine künstlerische Annäherung an das Thema Flächenumgestaltung von Jan Kamensky sowie visuelle Eindrücke von Verkehrsmaßnahmen mithilfe von Videoausschnitten aus Trondheim, Malmö, Oslo, Münster und Berlin. Während Fragerunden, Kaffee- und der Mittagspause, sowie einer offenen Podiumsdiskussion „Fish-Bowl“ mit Vertreter*innen der Verwaltung und Politik traten die Teilnehmenden in einen transdisziplinären Austausch.

EPXERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Dr. Julia Jarass (Foto: Dominik Buhl)
EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 (Foto: Julian Horn)
EPXERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Prof. Dr. Sophia Becker, Dr. Tanja Busse (Foto: Dominik Buhl)
EPXERI-Fachtagung 6./7.10.2022 (Foto: Dominik Buhl)
EPXERI-Fachtagung 6./7.10.2022 Foto: Julian Horn)
EPXERI-Fachtagung 6./7.10.2022 Foto: Julian Horn)

Die Gruppenleiterinnen des Projekts Dr. Julia Jarass (DLR) und Prof. Dr. Sophia Becker (TU Berlin) eröffneten das Event. Hierbei wurde der politische Rahmen des Berliner Mobilitätsgesetzes  als Grundlage für die EXPERI-Forschungsprojekte in den Blick genommen und erklärt, dass das Mobilitätsgesetz ohne das große zivilgesellschaftliche Engagement für eine fahrradfreundlichere Stadt nicht zustande gekommen wäre. Die Fachtagung zeigte, dass es nicht mehr um das ‚ob‘ der Verkehrswende gehe, sondern um das ‚wie‘. Es geht darum, wie die Verkehrswende möglichst schnell umgesetzt werden kann, wie bestehende Strukturen in der Verkehrsplanung verändert werden können und wie die Bevölkerung an der Verkehrsplanung beteiligt werden kann. Die Forschungsergebnisse und Diskussion zeigten, dass „Verkehrsplanung“ auch immer „Konfliktplanung“ bedeute.

Im Anschluss machten Anke Kläver (IASS) und Victoria Luh (IASS) den Auftakt mit ihrer Forschung zum Gerechtigkeitsbegriff in der Mobilitätswende. Wie können Kosten und Nutzen des Verkehrssektors fair verteilt werden? Und wie sollte man die Menschen in einem Verkehrsbereich an Entscheidungen über dessen Veränderung beteiligen? Der Schlüssel zur gerechten Verteilung liege in sorgfältig gestalteten Beteiligungsprozessen, die gemeinwohlorientiert, repräsentativ, langfristig und sensibel gegenüber benachteiligten und intersektionalen Perspektiven sind.

Nach dieser wissenschaftlich-theoretischen Arbeit präsentierte der Künstler Jan Kamensky sein Projekt „Visual Utopias“. Kamensky animierte Utopien öffentlicher, städtischer Räume und untermalte sie mit einer gedanken- wie humorvollen Präsentation. So sei es in etwa treffender, „Fahrzeuge“ als „Stehzeuge“ zu bezeichnen, wenn man sich an der Haupttätigkeit dieser „Zeuge” orientiere. Kamensky hinterfragte unsere spontanen Assoziationen, wenn wir uns eine “Straße” vorstellen: so wie Menschen vor nicht all zu langer Zeit eher an “Menschen” als an “Asphalt und Autos” denken mussten, sei ein erstrebenswertes Ziel für die Zukunft.

EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Anke Kläver, Victoria Luh (Foto: Julian Horn)
EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 (Foto: Julian Horn)
EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Jan Kamensky (Foto: Julian Horn)

Am Nachmittag folgten drei Vorträge zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, die aus Realexperimenten in drei Berliner Verkehrsbereichen resultieren. Realexperimente im Verkehrssektor, wie Dr. Julia Jarass (DLR) erklärte, sind temporäre Umgestaltungen von Verkehrsbereichen. Durch diese Umgestaltungen werden u.a. Verhaltensveränderungen von bisher privilegierten Verkehrsteilnehmenden bewirkt. Anhand von Haushaltsbefragungen und Erhebungen von Wegverläufen im Rahmen dreier Berliner Realexperimente (Sommerstraße Barbarossa, Stadtplatz Charlottenburg, Lausitzer Platz), diskutierte Dr. Jarass die Faktoren, die die Akzeptanz von Umgestaltungen der Verkehrsinfrastruktur erhöhen, bzw. senken.

Katharina Götting (IASS) fokussierte auf die Akzeptanz von sogenannten „Kiezblocks“. Die Idee der Kiezblocks ist inspiriert von „Superblocks“ in Barcelona. Ihr Ziel ist es, den Durchgangsverkehr um städtische Wohnquartiere herumzuleiten und so den öffentlichen Raum für Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehr sowie für Grünflächen und nicht-kommerzielle Nutzung zu öffnen. Ähnlich wie im vorherigen Vortrag, untersuchte Götting die Faktoren, die die Akzeptanz von Kiezblocks erhöhen, bzw. senken. Anders als davor, allerdings, wurde hier ‚Akzeptanz‘ auf der Ebene von Emotionen beschrieben, was durch die Analyse von ‚Affective Imageries‘ als Teil eines Online-Surveys möglich war.

Die Vielfalt an wissenschaftlichen Methoden wurde durch die Studie von Dr. Julia Schuppan (DLR) und Dr. Simon Nieland (DLR) als Schnittstelle zu EXPERI erweitert. Für das Verkehrsverhalten am Lausitzer Platz nutzten sie ein Agenten-basiertes Verkehrsmodell. Anhand dieses Modells wurde getestet, wie sich die Implementierung von neuen Fahrzeugkonzepten auf die Erreichbarkeit zum ÖPNV, zu Arbeitsplätzen, Freizeiteinrichtungen, etc. auswirkt.

EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Dr. Julia Jarass (Foto: Julian Horn)
EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Katharina Götting (Foto: Julian Horn)
EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Dr. Julia Schuppan, Dr. Simon Nieland (Foto: Dominik Buhl)

Mit diesen vielen Erkenntnissen im Kopf, wendete sich nun der Fokus auf die Übertragbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in die verkehrs- und stadtplanerische Praxis. Die Moderatorin Dr. Tanja Busse, die den ganzen Tag hervorragend begleitete, leitete nun eine Fish-Bowl-Diskussion mit Saskia Ellenbeck (Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg), Kirsten Pfaue (Stadt Hamburg), Oliver Schruoffeneger (Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf) und Felix Weisbrich (Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg). Zusätzlich zu den Expert*innen aus Politik und Verwaltung war das Publikum eingeladen, selbst an der Diskussion teilzunehmen und vorne neben den Expert*innen das Mikrofon zu ergreifen. Diese interaktive Methode half dabei, die Teilnehmenden der Fachtagung tiefer ins Gespräch mit einzubinden.

Als letzte Präsentation am Donnerstag stellte Alexander Czeh (DLR) seine Forschungsergebnisse über das Potenzial der Verkehrswende für den Wohnungsmarkt vor. Denn eine Stadt mit weniger Autos, ist eine Stadt mit weniger Bedarf an sogenannter „Off-Street Autoinfrastruktur“: Tankstellen, Autohäusern, Parkhäusern etc.. Diese können zum Teil für Wohnhäuser genutzt werden und somit gleichzeitig etwas gegen die Wohnungsknappheit und steigende Mieten getan werden. Nach einem Schlusswort von Dr. Julia Jarass, klang der Abend des ersten Tages bei Snacks und Getränken aus.

Eine detaillierte Übersicht, sowie Downloads der einzelnen Vorträge findet sich unter https://www.experi-forschung.de/fachtagung.

EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Felix Weisbrich, Saskia Ellenbeck, Dr. Tanja Busse, Oliver Schruoffeneger, Kirsten Pfaue (Foto: Dominik Buhl)
EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Alexander Czeh (Foto: Julian Horn)
EXPERI-Fachtagung 6./7.10.2022 | Dr. Julia Jarass (Foto: Dominik Buhl)

Am nächsten Vormittag ging es dann weiter mit drei parallel-laufenden Exkursionen, um die Forschung konkret in der Praxis erlebbar zu machen. Die erste Gruppe lernte das EXPERI-Realexperiment am Stadtplatz Charlottenburg kennen. Hier wurde im Herbst 2020 die Kreuzung einen Monat lang in einen autofreien Stadtplatz umgestaltet.

Die zweite Gruppe besichtigte den Lausitzer Platz, der gemeinsam mit umliegenden Straßen seit Ende 2020 zu einer Fußgänger*innenzone umgestaltet wird. Um sich in die unterschiedlichen Perspektiven von Anwohnenden und Gewerbetreibenden hinein zu versetzen, entwickelten Anke Kläver und Katharina Götting einen Persona-Ansatz, den sie den Exkursionsteilnehmenden zur Verfügung stellten.

Die dritte Gruppe besuchte die Kindertagesstätte Dresdner Straße, die in den 1980er Jahren auf den Strukturen eines Parkhauses aus den 1970ern erbaut wurde. Ohne Abriss wurden hier aus Off-Street Autoinfrastruktur 136 Krippenplätze.

Exkursion zum Stadtplatz Charlottenburg während der EXPERI-Fachtagung 2022 | Fotos: Peter Schust, EXPERI
Exkursion zum Lausitzer Platz während der EXPERI-Fachtagung 2022 | Foto: Dominik Buhl, EXPERI
Exkursion zur Kindertagesstätte Dresdener Straße während der EXPERI-Fachtagung 2022 | Foto: Ella Eisemann, EXPERI

Mit den Exkursionen endete die EXPERI-Fachtagung. Bis zum Ende des Projektes im Mai 2024 wird weitergeforscht. Über unsere Webseite können Sie sich über neue Ergebnisse und Veranstaltungen informieren.

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