Zusammenhang von Verkehrswende und sozio-ökonomischer Lage in Berlin – Autobesitz und sozio-ökonomische Lage
Verkehrswende und sozio-ökonomische Lage
Um die Mobilitätswende und die damit einhergehenden Maßnahmen sozial gerecht zu gestalten, sollte nicht nur beachtet werden, wer aktuell unter dem motorisierten Individualverkehr und seinen Folgen leidet, sondern auch wer für die negativen Effekte wie Lärm-, Luftverschmutzung und Flächenverbrauch verantwortlich ist. Wer also verursacht den motorisierten Individualverkehr und die damit einhergehenden negativen Effekte?
Ein Ansatz zur Bearbeitung dieser Frage ist die Betrachtung von Pkw-Besitzquoten. Auf Bundesebene lassen sich dazu bereits einige Untersuchungen finden. So besitzen 53 % der Haushalte mit sehr niedrigem Einkommen keinen Pkw, wohingegen dies lediglich auf 8 % der Haushalte mit sehr hohem Einkommen zutrifft. Zwei oder mehr Fahrzeuge sind in ungefähr der Hälfte der Haushalte mit hohem und sehr hohem Einkommen verfügbar[1]Frey, K. et al. (2020), Verkehrswende für ALLE, So erreichen wir eine sozial gerechtere und umweltverträglichere Mobilität, Umweltbundesamt und werden auch entsprechend häufiger als in den anderen Einkommensgruppen verwendet[2]Aust, F. et al. (2019), Mobilität in Deutschland, BMVI.
Um einen datenbasierten Beitrag zu dieser Debatte auf städtischer Ebene zu leisten, untersuchen Kläver und Czeh unterstützt durch Barkam und Nähring den Zusammenhang von Autobesitz und sozio-ökonomischer Lage am Beispiel von Berlin.
Autobesitz und sozio-ökonomische Lage
Der Blogbeiträge untersucht, ob es in Berlin einen Zusammenhang zwischen Pkw-Besitz und sozio-ökonomischer Lage der Einwohner*innen gibt. Dafür wird auf der Ebene von 436 lebensweltlich orientierten Räumen (LOR) die Pkw-Besitzquote[3]Statistikamt Berlin-Brandenburg (2021), Datenabfrage für 2020 (Autos je 100 Einwohner*innen (EW)) mit dem sozio-ökonomischen Status verglichen. Während die Pkw-Besitzquote auf Daten des Statistikamts Berlin-Brandenburg basiert, ist die Datengrundlage für die sozio-ökonomische Lage das „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ der Stadt Berlin. In diesem erfasst die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen den Anteil von Arbeitslosigkeit, Transferbezug und Kinderarmut der Bewohner*innen in den 436 LOR. Die sozio-ökonomische Lage[4]Die Senatsverwaltung fasst diese drei Kenngrößen unter dem Begriff „sozialer Status“ zusammen, wir halten jedoch den Begriff „sozio-ökonomische Lage“ für den vorliegenden Beitrag für … Continue reading ist in vier Kategorien von „sehr niedrig“ (hoher Anteil von Arbeitslosigkeit, Transferbezug und Kinderarmut) bis „hohe“ eingeteilt (geringer Anteil von Menschen mit Arbeitslosigkeit, Transferbezug und Kinderarmut) [5]Herrmann-Fiechtner, M. et al. (2019), Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen Berlin.
Ergebnisse der Untersuchung
Die Auswertung zeigt, dass in LOR mit sehr niedriger sozio-ökonomischer Lage durchschnittlich 23 von 100 EW ein Auto besitzen, während in den LOR mit hoher sozio-ökonomischer Lage fast doppelt so viele Menschen ein Auto besitzen (44 Pkw je 100 EW, siehe Abbildung 1). Wie eine Studie von Gössling et al.[6]Gössling, S., Choi, A., Dekker, K. and Metzler, D. (2018), The social cost of automobility, cycling and walking in the European Union, Ecological Economics 158: 65-74 belegt, decken die Nutzer*innen nur einen Teil der Kosten, die der Gesellschaft durch Autoverkehr durch z. B. Unfallkosten, Lärmkosten, Infrastrukturkosten oder CO2-Emission etc. entstehen, selbst. Entsprechend profitieren die sozio-ökonomisch bessergestellten Personen überproportional von den aus gesamtgesellschaftlicher Sicht zu geringen Kosten der privaten Autonutzung. Die Tatsache, dass in Berlin die Pkw-Besitzquote mit höherem sozio-ökonomischen Status steigt, zeigt, dass sich sozio-ökonomisch tendenziell schwächere Schichten seltener ein Auto leisten (können), während sozio-ökonomisch besser gestellte Schichten sich eher ein Auto leisten (können) und entsprechend überproportional von den nicht verursachungsgerechten Kosten des Autobesitzes profitieren.
Auf den folgenden beiden Karten werden jeweils getrennt voneinander die sozio-ökonomische Lage und die Pkw-Besitzquote auf LOR-Ebene abgebildet.
Die Karten der sozio-ökonomischen Lage und der Höhe des Autobesitzes in den LOR, bestätigen den Zusammenhang von hoher sozio-ökonomischer Lage und hoher Autobesitzquote, wie in Abbildung 1 statistisch zusammengefasst ist. Tendenziell steigt die Höhe des Autobesitzes (von weiß zu schwarz) im jeweiligen LOR mit der Höhe der sozio-ökonomischen Lage (von weiß zu dunkelblau). Die Höhe des Autobesitzes in einem LOR hat weitreichende Konsequenzen für die Bewohner*innen. So beeinflusst diese u. A. den Flächenverbrauch, die Höhe der negativen Effekte der Pkw-Nutzung sowie die kommunalen Kosten der Bereitstellung und den Betrieb von Autostellplätzen, was folgend kurz erläutert wird.
Weitere Aspekte des Autobesitzes in Berlin
Flächenfrage
Wenn Menschen mit dem Auto fahren, müssen sie auch ihr Auto abstellen, was i.d.R. im öffentlichen Raum, auf der Straße getan wird. Damit werden die Menschen ohne Autobesitz, also tendenziell Menschen mit niedrigerer sozio-ökonomischer Lage, benachteiligt, da ihnen öffentliche Fläche durch den Teil der Gesellschaft mit höherer sozio-ökonomischer Lage genommen wird.
Negative Effekte
Die Menschen, die am meisten unter den Abgasen und dem Lärm leiden, sind eher die Menschen mit schwächerer sozio-ökonomischer Lage. Grund dafür ist, dass sie häufiger an den von Verkehr belasteten Hauptverkehrsachsen wohnen, wie die Doktorarbeit von Thilo Becker „Sozialräumliche Verteilung von verkehrsbedingtem Lärm und Luftschadstoffen am Beispiel von Berlin“ untersucht hat[7]Becker, T. (2015), Sozialräumliche Verteilung von verkehrsbedingtem Lärm und Luftschadstoffen am Beispiel von Berlin.
Kosten für Bereitstellung und Betrieb von Autostellplätzen
Die Einnahmen aus Parkraumbewirtschaftung und Anwohner*innenparkausweisen decken derzeit nicht die kommunalen Kosten für den Betrieb und die Bereitstellung der Parkplätze, welcher nach einer Studie der Agora-Verkehrswende pro Jahr circa 220€ pro Parkplatz kostet[8]Klein-Hitpaß, A. et al. (2020), Umparken – den öffentlichen Raum gerechter verteilen. Dies liegt daran, dass Berlin in weiten Teilen der Stadt keine Parkraumbewirtschaftung hat und die Gebühren für Anwohner*innenparkausweise mit 10,20€ pro Jahr sehr gering sind. Somit müssen auch die Teile der Stadtgesellschaft indirekt für die Kosten von Betrieb und Instandhaltung aufkommen, die kein Auto besitzen.
Fazit, Interpretation und Ausblick
In Berlin ist der Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischer Lage und Pkw-Besitz sehr hoch. Berliner*innen mit hoher sozio-ökonomischer Lage besitzen fast doppelt so viele Autos (44 %), wie Einwohner*innen mit sehr niedriger (23 %) oder niedriger sozio-ökonomischer Lage (24 %). Mehr als dreiviertel der Einwohner*innen mit niedriger oder sehr niedriger sozio-ökonomischer Lage in Berlin besitzen kein Auto und bewegen sich mit dem Umweltverbund, also dem ÖPNV und aktiv zu Fuß oder mit dem Fahrrad fort.
Entsprechend ist es positiv zu bewerten, dass fast alle Parteien in ihrem Wahlprogramm für die Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses im September dieses Jahrs eine Verbesserung des ÖPNVs und der aktiven Mobilität ankündigen. Dies ist dringend notwendig, denn trotz unternommener Anstrengungen der letzten Jahre sind die Bedingungen für den Radverkehr stark verbesserungswürdig[9]Allgemeiner Deutscher Fahrrad Club (2020), ADFC Klimatest.
Für den Ausbau des Umweltverbundes, wie den Ausbau des Radwegenetzes oder die Idee eines 365€-Jahrestickets zur Nutzung des ÖPNVs, werden zusätzliche finanzielle Mittel benötigt. Canzler und Knie schlagen zur Finanzierung die Erhöhung der Kosten des Autoverkehrs durch die Einführung einer City-Maut vor[10]Canzler, W. et al. (2020), CITY-MAUT BERLIN 2021. Andere mögliche Finanzierungsquellen sind die Erhöhung von Parkgebühren sowie die Ausweitung und die Erhöhung der Kosten für Anwohner*innenparkausweise.
Die Auswertung der Pkw-Besitzquote im Vergleich zur sozio-ökonomischen Lage in Berlin zeigt auf, dass sozio-ökonomisch bessergestellte Menschen überdurchschnittlich von geringen Kosten für den Autoverkehr profitieren, während mehr als Dreiviertel der Menschen mit niedriger und sehr niedriger sozio-ökonomischer Lage kein Auto besitzen und entsprechend nicht von den derzeitigen geringen Kosten des Autoverkehrs profitieren. Gleichzeitig ist gerade diese Gruppe überproportional von den negativen Effekten des Autoverkehrs betroffen.
Fußnoten[+]