Ist die progressive Verkehrspolitik von Vorreiterstädten wie Amsterdam auf deutsche Städte übertragbar?
Auf der Suche nach neuen Mobilitätskonzepten für deutsche Großstädte geht der Blick immer wieder in die gleiche Richtung: nach Norden ins dänische Kopenhagen – und nach Westen ins niederländische Amsterdam. Warum ist dort die Mobilität so fahrradfreundlich gestaltet, während Deutschland sich noch immer als Autonation versteht? Warum fällt es so schwer, die erfolgreichen Mobilitätskonzepte unserer Nachbarländer auf Düsseldorf, Stuttgart oder München zu übertragen?
Vergleicht man die Niederlande mit Deutschland, so wird oft argumentiert, dass die heimische Automobilindustrie für Deutschlands Wirtschaft und für das kulturelle Selbstverständnis eine besondere Rolle spiele. Deshalb sei die Verkehrspolitik in Deutschland autofreundlicher gestaltet als in den Niederlanden. Tatsächlich ist Deutschland eines der wenigen europäischen Länder, die auf Autobahnen kein allgemeines Tempolimit kennen; Dieseltreibstoff wird trotz Dieselskandal weiterhin politisch verbilligt; es gibt bundesweite Kaufprämien für Autos, sofern diese einen Hybrid- oder Elektroantrieb haben; und bislang ist auch das Autoparken in Deutschland auf den viel zu niedrigen Preis von max. 30,70 Euro pro Jahr für Anwohner*innen gedeckelt.
Die Auswirkungen dieser autofreundlichen Politik schlagen sich u. a. im Motorisierungsgrad nieder. Im Ländervergleich hat Deutschland mit 561 Pkw/ 1.000 Einwohner*innen eine höhere Pkw-Besitzquote als die Niederlande mit 487 Pkw/ 1.000 Einwohner*innen[1] (13 % weniger). Im direkten Vergleich des urbanen Raums zeigt sich ein ähnlicher Kontrast. So hat Berlin mit 324 Pkw/ 1.000 Einwohner*innen[2] zwar eine für Deutschland sehr niedrige Pkw-Besitzquote, Amsterdam unterbietet diese aber mit 274 Pkw/ 1.000 Einwohner*innen um 15 %.
Der direkte Einfluss der deutschen Automobilindustrie auf die bisherige deutsche Verkehrspolitik ist schwer zu beziffern. Einzelne Ereignisse der vergangenen Jahre weisen aber klar darauf hin, dass dieser Einfluss bisher sehr stark ist. So ist Bernhard Mattes‘ Amtszeit als Chef des Verbands der Deutschen Automobilindustrie (VDA) viel früher als geplant zu Ende gegangen, da ihm immer wieder aus den Mitgliedsunternehmen des VDA die Kritik entgegengeschlagen war, auf der bundespolitischen Bühne nicht stark genug vernetzt gewesen zu sein[3], also nicht genügend politischen Einfluss zu haben. Der vorherige VDA-Chef Matthias Wissmann, hatte wiederum in den 90er sogar selbst als Bundesverkehrsminister amtiert. Darüber hinaus zeigt das europapolitische Engagement der deutschen Bundesregierung, dass die Interessen der deutschen Automobilwirtschaft bisher nicht nur zuhause, sondern auch auf EU-Ebene eine hohe Priorität genossen. Auf den alleinigen Druck Deutschlands hin wurde vor einigen Jahren die Verschärfung der CO2-Grenzwerte für Neuwagen abgemildert und verzögert[4].
Ist die deutsche Verkehrspolitik also ein Spielball der Interessen der Automobilindustrie? Sind die niederländischen Vorzeigebeispiele gar nicht auf die deutsche Situation anwendbar?
Die politische Bedeutung der Automobilindustrie zeigt sich vor allem auf Bundesebene, zum Teil auch auf Landesebene. So baten die Ministerpräsidenten der drei Bundesländer, die sich selbst als Auto-Bundesländer verstehen, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Bayern, darum im Sommer 2019 beim Autogipfel der Bundeskanzlerin mit am Tisch sitzen zu dürfen[5]. Und dennoch: über zwei zentrale Stellhebel der Verkehrswende wird nicht auf Bundes- oder Landesebene, sondern auf kommunalpolitischer Ebene entschieden: 1. der massive Ausbau einer sicheren, komfortablen Radinfrastruktur nach niederländischem Vorbild, 2. die Umwidmung von Flächen vom Pkw hin zu ÖPNV, Rad- und Fußverkehr. Auf kommunalpolitischer Ebene ist außerdem die organisierte Zivilgesellschaft ein mächtiger Akteur, der als Korrektiv einer auf die „autogerechte“ Stadt hin ausgerichteten Verkehrspolitik dient.
Seit dem Berliner Volksentscheid Fahrrad im Jahr 2016, der zum ersten Mobilitätsgesetz Deutschlands führte, haben sich auch in anderen deutschen Städten engagierte Menschen zusammengeschlossen, um die zukünftige Verkehrspolitik ihrer Stadt mitzugestalten und an einer „menschengerechten“ Stadtplanung auszurichten[6].
Die Rolle der Zivilgesellschaft ist entscheidend.
In Amsterdam gingen in den 1970er Jahren viele Menschen für mehr Verkehrssicherheit auf die Straße, vor allem wollten sie Radfahrerinnen und Fußgänger besser vor Autos schützen. Zur gleichen Zeit sorgten die Züricherinnen durch Volksinitiativen dafür, dass es eine klare Begrenzung des Pkw-Verkehrs und einen massiven Ausbau des ÖPNV in ihrer Stadt geben soll[7].
Mit den verschiedenen Bürgerbegehren für sicheres Radfahren hat sich auch Deutschland auf den Weg gemacht in eine nachhaltige Mobilitätszukunft. Wenn wir offen für die Positivbeispiele und Lernerfahrungen aus Vorreiterstädten sind, gelingt dieser Umbau hoffentlich in weniger als 50 Jahren.
Fußnoten
- https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=road_eqs_carhab&lang=en (bezogen auf das Jahr 2017), [13.11.2019]
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/255179/umfrage/bestand-an-pkw-in-berlin/ [12.11.2019]
- https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/auto-von-morgen/verband-der-automobilindustrie-vda-praesident-mattes-brueskiert-mit-seinem-ueberraschenden-ruecktritt-freund-und-feind-gleichermassen/25013182.html [12.11.2019]
- https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deutschland-gegen-strengere-co2-grenzwerte-das-dreisteste-was-ich-in-acht-jahren-bruessel-erlebt-habe-1.1707369 [12.11.2019]
- https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Brief-an-Merkel-Weil-will-auch-zum-Autogipfel,autogipfel100.html [12.11.2019]
- https://www.zeit.de/mobilitaet/2019-10/verkehrswende-radentscheid-buergerbegehren-radverkehr-sicherheit-fahrradstaedte [13.11.2019]
- https://www.zukunft-mobilitaet.net/88783/urbane-mobilitaet/vorbild-verkehrspolitik-zuerich-oeffentlicher-verkehr/ [13.11.2019]